Susi Stenglein

 Wie ich mir, so ich dir – Die Sache mit dem Selbstmitgefühl

Selbstmitgefühl, Selbstliebe ist in aller Munde, das unverzichtbare Fashion Accessoire, auf das niemand verzichten sollte. Und wenn man sich durch die Vielfältigkeit von Beiträgen zum Thema Selbstmitgefühl liest, muss das ja ganz easy zu lernen sein. Ich habe zig Seminare zum Thema besucht und beschäftige mich schon einige Jahre mit dieser Thematik, aber ehrlich gesagt frage ich mich: Wenn das mit dem Selbstmitgefühl so einfach ist, warum fällt es mir dann immer noch so oft so schwer? Wie oft lächeln wir, obwohl uns eigentlich zum Heulen zumute ist? Wie oft sagen wir „Ja“, obwohl wir eigentlich „Nein“ sagen möchten? Wie oft sagen wir „Es geht mir gut“, obwohl es uns gar nicht gut geht?
Ich möchte dir eine persönliche Geschichte erzählen

Manchmal bin ich echt hart zu mir, gestehe mir gewisse Gefühle nicht zu, um nicht zu empfindlich zu wirken, um einem Konflikt aus dem Weg zu gehen, um gemocht zu werden, um keine Schwäche zu zeigen.

Ich gehöre zu den Menschen, die sich gerne viele Projekte aufhalsen, völlig egal ob sie mir Spass machen oder nicht, ob ich die für mich oder für andere erledige. Und wenn mich jemand um einen Gefallen bittet, erfülle ich den gerne zusätzlich. Ständig und möglichst perfekt. Ich teile unglaublich gerne und viel, möchte nie etwas dafür zurück und bevor ich mir selbst etwas zugestehe, würde ich es erst jemand anderes zugestehen. Bei all dem beachte ich kaum meine eigenen Ressourcen, weder körperlich noch mental.

Ich bin mit 4 Geschwistern großgeworden und meine Eltern haben immer voll gearbeitet. Wir wohnten auf 90qm zu siebt, Geld war kaum vorhanden. Meine Mutter war eine Perfektionistin, eine starke Frau, die viel geschafft hat und sich selbst wenig Zugeständnisse gemacht hat, weil sie uns alles ermöglichen wollte. Und doch hat auch sie nicht immer alles perfekt hinbekommen – das wäre auch unmenschlich, für sie kam das einem Versagen gleich. In so einer großen Familie aufzuwachsen verlangt einiges von allen Beteiligten ab. Es blieb wenig Zeit für „Aufmerksamkeit“, da musste der Laden laufen und wir hatten alle unsere Aufgaben. Wenn wir nicht gemeinsam funktioniert haben, hat das vieles durcheinandergebracht. Es mussten Prioritäten gesetzt werden und da blieb nicht viel Raum über eine Beule oder Schramme zu weinen. Ich habe gelernt, sich den Kopf zu stoßen und eine kleine Beule zu haben o. ä.,ist doch nicht so schlimm. Es ist ja nur eine Beule, der Kopf ist zum Glück noch dran. Eine böse Absicht war das nie und ich vermute, meine Eltern haben es selbst nicht anders kennengelernt. Sie haben es wahrscheinlich sogar immer noch besser gemacht, als sie es selbst als Kinder kennengelernt haben. Jetzt, wo ich selbst Mutter bin, kann ich gewisse Dinge viel besser verstehen. Trotzdem haben diese und weitere Erfahrungen dazu geführt, dass ich mir mit 35 Jahren eingestehen musste an meiner Haltung mir selbst gegenüber dringend arbeiten zu müssen und dafür musste es, wie so oft, ein einschneidendes Erlebnis sein – die harte Tour.

Ich landete mit einer verschleppten Nieren-/Beckenentzündung auf der Intensivstation im Krankenhaus, weil meine Nieren kurz vorm versagen waren. Die Ärzte waren überrascht, dass es soweit gekommen ist. Sie haben mich gefragt, ob ich denn keine Schmerzen hatte, die ziemlich arg gewesen sein müssen. 2 Wochen, bevor ich ins Krankenhaus kam, war ich feste davon überzeugt, das sind Rückenschmerzen, sie waren auszuhalten. Zusätzlich hatte ich Kopfschmerzen, ich dachte aber auch hier, das die natürlich eine Begleiterscheinung meiner Rückenschmerzen sein müssen. Fieber kam erst viel später dazu. An einen brennenden Schmerz beim Toilettengang kann ich mich nicht erinnern, das hat aber nichts zu heißen. Das ich mich aber eigentlich kränklich gefühlt haben muss, ich müde war und insgesamt nicht ganz so fit, habe ich völlig ignoriert – denn meine vielen Projekte, die ich mir gerne aufhalse, waren wichtiger.

Seid diesem Ereignis, habe ich erkannt, dass ich andere Dinge meiner Gesundheit regelmäßig vorgezogen habe. Alles war wichtiger, nur ich selbst nicht. Rückblickend betrachtet fallen mir da eine Menge Dinge ein.

Bei den vielen Untersuchungen die im Krankenhaus durchgeführt wurden, wurde festgestellt, dass ich mit nur einer Niere geboren wurde. Das ist nichts seltenes und auch nicht weiter schlimm, weil man gut mit einer Niere leben kann. Aber bei der Schwere meiner Nieren-/Beckenentzündung, war das Ganze dann doch lebensbedrohlich. Und mit diesem Wissen fing ich an, mir so meine Gedanken zu machen.

Was bedeutet Selbstmitgefühl?

„Es ist ganz entscheidend, wie man mit sich selbst in schweren Zeiten umgeht“
(Kristin Neff, Psychologin an der University of Texas in Austin)

Das Wort Selbstmitgefühl setzt sich aus den Worten Selbst – Mit – Gefühl zusammen. Grob beschrieben bedeuten diese:

Selbst: die psycho-soziale Identität eines Menschen. Es dient der Verstärkung und Betonung des eigenen Ich’s.

Mit: drückt die Gemeinsamkeit, das Zusammen sein oder Zusammenwirken mit einem oder mehreren anderen Tätigkeiten aus und drückt die Wechselseitigkeit bei einer Handlung aus.

Gefühl: Wahrnehmung durch die Sinne, seelische Regung, Empfindung.

Selbstmitgefühl bedeutet grundsätzlich, dass man sich selbst genauso gütig und verständnisvoll behandelt, wie man mit einer Freundin oder einem Freund umgehen würde. Das klingt total gemütlich und erweckt vielleicht den Eindruck, dass Menschen, die unglaublich mitfühlend sind, auch die glücklicheren Menschen auf der Welt sind. Selbstmitgefühl ist jedoch alles andere als gemütlich und setzt voraus, dass man sich seiner Selbst bewusst ist, einen Zusammenhang zwischen Gefühl und Emotion herstellen kann und die Wechselseitigkeit ihrer Bedeutung verstehen und annehmen lernt. Selbstmitgefühl setzt ebenfalls die Bereitschaft für Veränderung voraus. Wir müssen Verantwortung für uns selbst übernehmen.

Kristin Neff, eine der weltweit führenden Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet Selbstmitgefühl, erklärt, dass „Selbstmitgefühl noch tiefer als Selbstakzeptanz geht. Es beinhaltet ein aktives Sich-Kümmern, das Beste für sich selbst zu wollen und sich zu sagen: Ich will meine Wunden heilen, gesund und glücklich sein. Manchmal bedeutet das eben eine Veränderung des eigenen Lebensstils.“

Wenn man im Yogasutra von Patanjali stöbert, wird man feststellen, dass sich darüber schon vor über Tausend Jahren jemand sinnvolle Gedanken gemacht hat: Hier werden 4 Geisteshaltungen beschrieben, mit denen wir Hindernisse in unserem Leben auflösen. Im Buddhismus gelten diese als die „4 Herzensbefreiungen“:

Maitri (Metta): Freundlichkeit, Liebe, Freundschaft, Güte
Karuna: Mitgefühl, Barmherzigkeit
Mudita: Freude, Heiterkeit, Mit-Freude, Glück
Upeksha: Gleichmut, Geduld, Nicht-Anhaftung

Was bedeutet das jenseits deiner Yogamatte?

Wir alle haben es verdient geliebt zu werden und wir haben es verdient, uns selbst zu lieben. Das hat nichts mit Egoismus zu tun, wir reden schließlich nicht von Selbstbezogenheit. Das wird allerdings gerne mit Selbstmitgefühl verwechselt.
Wir sind alle einzigartig und genauso einzigartig sind auch unseren Haltungen und Blickwinkel.
Der Schlüssel zu mehr Freundlichkeit zu uns selbst und in unserer Gesellschaft liegt darin, uns selbst gegenüber eine liebevolle Haltung zu kultivieren. So wie wir nur gute Beziehungen führen können, wenn wir freundlich miteinander umgehen. Generell ist es für die meisten Menschen leichter, anderen Mitgefühl entgegenzubringen als sich selbst.

Sei nicht zu streng mit dir

Wir sollten nicht zu streng mit uns sein und uns in Situationen hineinversetzen können (auch unsere eigenen), um sie vielleicht zu verändern. Wir haben alle eine innere Stimme, unseren inneren Kritiker, mit dem wir uns auseinandersetzen sollten. Vielleicht weniger Widerstand zu leisten und innerlichem Trotz zu frönen, sondern die Dinge anzunehmen, wie sie sind, und uns mehr mit dem Dahinter auseinandersetzen. Das hilft, um den Blickwinkel auf ein ungesundes Muster zu verändern. Der Klassiker ist die gescheiterte Diät.

Mache Zugeständnisse

Es ist wichtig, sich selbst Glück und Freude zuzugestehen. Es ist aber ebenso wichtig genau das auch anderen zuzugestehen und sich mitzufreuen. Auf der Yogamatte meldet sich gerne unser innerer Kritiker. Bspw. wenn du für diese eine Asana nicht flexibel genug bist, aber die Mädels vor dir auf der Matte, die stehen mit ihren ranken und schlanken Körpern wie eine Eins in der Asana. Sei nicht zu streng mit dir und mach dir bewusst, dass diese Asana dir nach und nach zu mehr Flexibilität verhilft. Frage dich immer wieder selbst, wie du dich in dieser Haltung fühlst und ob du sie genießen kannst. Du musst dich nicht verbiegen, um dich zu Verändern, sondern vielmehr versuchen dein Ändern zu leben.

Sehe deine Fehler als Chance

Wir können nie wissen, wie etwas zu sein hat. Diese Haltung zu üben, kann dabei helfen nicht zu bewerten und uns selbst wieder liebevoll zuzuwenden. Fehler als Chance zu sehen, wird uns dabei unterstützen daraus zu lernen. Laut Patanjali leiden wir alle auf unserem Weg, das bedeutet aber nicht, wenn du mal wieder einen Ausrutscher hattest, bspw. eine riesige Schüssel Eiscreme verputzt hast oder die Geduld verloren hast, dass du dich dafür bestrafen musst. Gestehe dir Fehler zu und sei trotzdem stolz auf dich. Integriere vielleicht einen gesunden Humor.

Setz dich nicht unter Druck

Lege nicht alles auf die Goldwaage, sondern versuche dich zu entspannen. Du wirst es nicht jedem Menschen recht machen können. Versuche Kritik liebevoll anzunehmen und befreie dich von den hohen Ansprüchen an dich selbst. Wir verlieren immer wieder unser Ziel aus den Augen, haben vielleicht die falsche Abzweigung genommen, sind im Kreis gelaufen oder sogar rückwärts gegangen. Aber jeder Schritt wird sich lohnen, auch wenns mal ein bisschen länger dauert!

Bleibe du selbst

Es erfordert Mut, uns so zu zeigen wie wir sind, wir könnten uns angreifbar machen und an Sympathien verlieren. Es erfordert Mut Meinungen infrage zu stellen (auch die eigene) und sich auf neue Sichtweisen einzulassen. Es erfordert Mut die Kontrolle abzugeben und dich überraschen zu lassen von den vielen unbekannten Dingen des Lebens.

Tief im Inneren wissen wir, wer wir sind. Wir alle besitzen einen Ort voller Frieden und Leichtigkeit, eine innere Weisheit, einen Ort voller Widerstandsfähigkeit und Kraft. Gerade jetzt, wo Corona unseren Alltag fest im Griff hat, hilft es, sich mit Abstand und trotzdem liebevoll zu begegnen, mitfühlend und uns solidarisch zu zeigen, Geduldig zu sein und dabei die Freude am Leben nicht zu verlieren. Und wenn Corona vorbei ist, habe ich die große Hoffnung, dass von diesen Aspekten bei vielen Menschen etwas hängengeblieben ist.

In diesem Sinne stay true, be you!

Deine Susi